Wie entsteht ein Gutachten?

Was mir vorliegt: V. hat einen Brief an mich verfasst. Sie schreibt mit blauem Kugelschreiber. Ich erfahre einiges über Schule und Leben.

Den Menschen, dessen Schrift ich bearbeite stelle ich mir meist in seinem Lebens und Arbeitsumfeld vor. Den Text lese ich normalerweise irgendwann, jedoch nicht gleich am Anfang. Für mich ist der erste Eindruck des Schriftstücks wichtig. Dabei sehe ich das Gesamtbild, die Abschnitte, sehe Größe, Regelmaß, Unterschrift und, was mir außergewöhnlich erscheint.

Diese Schrift wirkt gleichmäßig, dichtes Schriftbild, gute Abschnitte, wenig Rand, kleine Unterschrift. Das deutet hin auf: geordnete altersgemäße Persönlichkeit, die eher zurückhaltend auftritt aber durch Ausdauer und Disziplin auffällt.

Ich untersuche die Schrift anhand einer etwa 20-teiligen Liste mit Gesichtspunkten, unter denen ich die Schrift betrachte. Diese Liste erlaubt nicht Antworten mit „ja“ oder „nein“, sondern ist sehr viel feingliedriger. Hier die richtigen Begriffe zu wählen ist die anspruchsvolle Arbeit eines Graphologen.

Diese Schrift weist enge und regelmäßige Arkaden auf, das deutet hin auf: Disziplin, Beharrlichkeit, Zurückhaltung, Sinn für Maß und Form, gehemmte Äußerung aus Vorsicht, Konventionsgebundenheit, Zuverlässigkeit.

Diese Schrift ist eher klein, das deutet hin auf: Sachlichkeit, Konzentration, Gründlichkeit, Objektivität, Selbstbeherrschung

Senkrecht bis rechtsschräg ist die Schriftlage, das deutet hin auf: Wärme, Geschäftigkeit, Streben nach Bewährung

Oberlänge und Unterlänge heben sich deutlich vom Mittelband ab, das deutet hin auf: Unternehmungsfreude, allseitige Interessiertheit, Strebsamkeit

Das sind vier von ca. 20 Gesichtspunkten unter denen ich jeden Text ansehe.

Meist schreibe ich zwei bis drei Seiten handschriftliche Notizen auf Blätter. Das sind meine Mosaiksteine für das Gutachten. Die vielen gefundenen Aussagen gehe ich mit verschiedenfarbigen Stiften durch und markiere Widersprüche, gruppiere ähnliche Aussagen, etc.

Anschließend nehme ich meine geordneten Stichworte und schreibe hoch konzentriert den Gutachtentext. Am nächsten Tag lese ich alles nochmals sehr sorgfältig durch und korrigiere eventuelle Unklarheiten: ich ändere Formulierungen ab, entdecke, was evtl. noch fehlt, schleife da und dort noch nach.

Da die Empfänger sehr unterschiedliche Personen sind, ist wichtig, die Fragestellung äußerst individuell zu beantworten: das kann ein Personalchef sein, der kurz und eher knapp wissen möchte, was ich sehe oder eine Ratsuchende Person, die sehr sensibel ist und bei der ich ausgesprochen zurückhaltend und einfühlsam formulieren muss. Ein Graphologe muss sowohl den Schreibenden, als auch den Auftraggeber erkennen und mit ihm auch entsprechend kommunizieren

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