Der zweite Frühling

50 Jahre Abitur – das waren eindrucksvolle Stunden in der alten Schule. Die meisten hatten sich in der Zwischenzeit nicht mehr getroffen, doch diesen Anlass haben viele dann doch wahrgenommen. Günther hat sie gleich erkannt, der ironische Blick, der ist geblieben. Und Lotte, eine von den fünf Mädchen der Klasse, auch sie hatte den spitzbübisch-freundlichen Augenausdruck trotz einiger Falten noch erkennbar bewahrt. Beide suchten sie, leicht unauffällig, recht rasch den Kontakt und tauschten sich bald intensiv aus.

Er war Kunsterzieher in Bremen und natürlich auch Künstler geworden. Das Meer, die große Stadt, alles war weitgehend nach seinem Geschmack gelaufen…

Sie auf dem Land geblieben und war einfach über viele Jahre Studienrätin. Weil zwei Seelen in ihrer Brust lebten, konnte sie sich nie entscheiden. Das betraf die Männer und den Wohnort. Ein wenig bedauerte sie das, doch ihr autonomes Leben fand sie durchaus auch gut.

Wie weiter?

Beide hielten sie etwas von Schriftanalyse und Handschrift. So entstand die Idee, ihre beiden Schriften einer Graphologin zu unterbreiten. Sie wollten den Anderen und sich selbst kennen lernen und so die Möglichkeiten und Risiken ausloten, sich privat zusammenzutun.

Ihre Schriften:

Sie: Ausdauer und Beharrlichkeit sowie das das richtige Maß für das Leben und Arbeiten waren es eher als die Entscheidungsproblematik, die sie von Partnerschaft und Umzug abhielten. Alles lief in einem guten, unaufgeregten Rahmen, sachlich Jahr um Jahr. Ihre Emotionen, so viele waren es ja nicht, konnte sie in der Schule gut brauchen, ihr Selbstbewusstsein fand in der Rolle der Lehrerin Halt, da es auch eher weniger ausgeprägt war.

Er: Seine leichte Neigung zum Außergewöhnlichen zeigt sich auch in der Schrift. Doch bleibt er damit im Rahmen und entfernt sich nicht weit vom Üblichen. Etwas Extravaganz, Ästhetik, Darstellung sind deutlich zu erkennen, doch die Rolle des Künstlers gab dem auch Raum. Keine Aggression, gesunde Durchsetzung… was will man mehr?

Ergebnis: Anstatt sein Elternhaus zu verkaufen zieht der verwitwete Familienvater dort ein, so sind die beide auf eine lockere Art sich nahe und können auch als Paar unabhängig bleiben.